In den überfüllten Lagern sitzen Zehntausende Geflüchtete und Asylsuchende unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen fest. Durch die Pandemie hat sich die Situation noch weiter zugespitzt.
Die katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Lagern begünstigen die Ausbreitung der Covid-19-Epidemie. Angesichts der fehlenden sanitären Anlagen und der begrenzten medizinischen Versorgung ist das Risiko, dass sich das Virus weiter unter den Geflüchteten ausbreitet, nach wie vor hoch. Wie sollen in einem solchen Lager die Präventionsmassnahmen wie Abstandhalten oder regelmässiges Händewaschen eingehalten werden? Fünf- oder sechsköpfige Familien teilen sich Unterkünfte, die nicht grösser als drei Quadratmeter sind. Seit März 2020 wurden die Ausgangsbeschränkungen in Verbindung mit dem Coronavirus und die Beschränkung der Freizügigkeit von Asylsuchenden in Moria verlängert – sieben Mal und insgesamt mehr als 150 Tage.
Enri Canaj war auch am 9. September 2020 vor Ort, als mehrere Brände im Geflüchtetenlager von Moria auf der Insel ausbrachen. Das Feuer zerstörte die komplette Infrastruktur und zwang 12 000 Männer, Frauen und Kinder, zu fliehen.
«Es ist eine Schande, was diese Menschen täglich auf der Insel aushalten müssen», ärgert sich Enri Canaj. Diese Brände sind nur die Spitze des Eisbergs. In Griechenland sitzen als Folge der im März 2016 in Kraft getretenen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei Zehntausende Geflüchtete und Asylsuchende in Lagern fest. Diese Abkommen wurden von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen, kritisiert. Sie haben dazu geführt, dass Tausende Männer, Frauen und Kinder in Lagern festsitzen, wo sie unter unhygienischen, gefährlichen und menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen.
Das Leben auf engstem Raum in diesen Lagern verursacht Spannungen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der Camps. «In Vathy auf der Insel Samos leben mehr als die Hälfte der Menschen in den Lagern in Zelten oder unter Plastikplanen, umgeben von Abfällen und menschlichen Exkrementen», kritisierte Vasilis Stravaridis, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Griechenland, bereits 2019.
Verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit
Für die Menschen in den Lagern gibt es viele Hürden beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das psychologische Personal von Ärzte ohne Grenzen leistet ihnen Beistand, vor allem bei Problemen mit Depressionen, Ängsten, Psychosen oder Leiden infolge von Folter. Im Zeitraum zwischen 2019 und 2020 behandelten die Teams der Kliniken für psychische Gesundheit auf den Inseln Chios, Lesbos und Samos insgesamt 1369 Patientinnen und Patienten. Viele von ihnen litten unter starken psychischen Problemen, vor allem posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen. Mehr als 180 Personen, die von Ärzte ohne Grenzen betreut wurden, hatten sich selbst verletzt oder einen Selbstmordversuch unternommen. Zwei Drittel von ihnen waren Kinder, die Kleinste war gerade einmal sechs Jahre alt.
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Ich habe ein Problem mit meiner Niere. Es ist sehr schmerzhaft. Auch Kopfschmerzen habe ich jeden Tag. Alle meine Versuche, hier im Lager oder im Spital zum Arzt zu gehen, waren erfolglos. Meine Kinder sind alle übersäht von Insektenstichen und fühlen sich oft krank, aber ich kann ihnen nicht helfen», so Golnegar. Ihr Mann fügt hinzu: «Alles, was wir wollen, ist einen sicheren Ort für unsere Kinder. Wir sind hierher gekommen, um sie vor dem Krieg zu retten. Wir wollten, dass sie zur Schule gehen können. Stattdessen sitzen wir nun seit fast einem Jahr hier im Lager fest.
Sich aus seinen Fesseln befreien
«Die Menschen hier überwinden enorme Hindernisse. Es zeigt, wie stark und aussergewöhnlich wir Menschen sind», sagt Enri Canaj. Die Männer, Frauen und Kinder unterstützen sich gegenseitig. Trotz unmenschlicher Bedingungen ist inmitten der Migrantengemeinschaft eine grosse Menschlichkeit spürbar.»
Enri Canaj musste selbst mit elf Jahren aus Albanien flüchten und kann sich gut in die Menschen hineinversetzen, die er fotografiert: «Ich weiss, wie es sich anfühlt, festzusitzen. Wie es ist, mehrere Jahre ohne Papiere zu leben, ständig in Gefahr zu sein. All diese Gefühle sind wieder hochgekommen, als ich diese Menschen fotografiert habe. Die Fotografie hat mir dabei geholfen, meine Erfahrungen zu verarbeiten. In dem Moment, wo ich nicht mehr nur passiv, sondern proaktiv mit meiner Realität umgegangen bin, war ich wieder in der Lage, mich auszudrücken.» Trotz allem versuchen die Geflüchteten, ihr Leben so normal wie möglich zu organisieren.
«Das Meer verkörpert die bittersüssen Erfahrungen der Menschen», kommentiert Enri Canaj. Es hat Tausende Menschen bis nach Europa getragen. Aber viele haben es auch nicht geschafft. Einige Körper gab das Meer wieder her, andere hat es für immer verschluckt. Nun spielen hier nachmittags die Kinder. Aufgrund des Mangels an grundlegenden Strukturen ist das Meer zu einem Ort geworden, an dem die Menschen baden, ihre Kleidung waschen und sogar Mahlzeiten finden.»
Moria – Symbol für eine gescheiterte Migrationspolitik
Mehr denn je stehen Moria und die anderen Lager Symbol für das Scheitern der EU-Migrationspolitik. Tausende von Frauen, Männern und Kindern werden zu unfreiwilligen Akteuren in einer zeitgenössischen griechischen Tragödie.
«Wenn jemand aus einem vom Krieg zerrütteten Land kommt, kann man ihm nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlagen und ihn wegschicken», so Enri Canaj entrüstet. «Doch trotz der unmenschlichen Bedingungen, die hier herrschen, helfen die Gemeinschaften einander gegenseitig. Innerhalb der Migrantengemeinschaften kümmert man sich liebevoll umeinander. Wir alle lernen viel von unseren eigenen Erfahrungen – und von den Menschen, denen wir begegnen, unseren neuen Nachbarn mit ihrer Kultur, ihren Traditionen, ihrem Schmerz und ihrer Kraft. Ich glaube fest daran, dass es dieser Zusammenhalt ist, der den Geflüchteten auf den griechischen Inseln die Kraft gibt, durchzuhalten», so der Fotograf.