
Griechenland: An den Toren der Festung Europa
«Vergleicht man die Migration mit einem grossen Baum, dann symbolisieren die Wurzeln des Baums die gemeinsamen Beweggründe: Die Menschen brechen in andere Länder auf, da sie von einer besseren Zukunft für ihre Kinder träumen. Sie flüchten vor Krieg, Unterdrückung und Gewalt, um Elend und Konflikte hinter sich zu lassen. Die Dramen und Ängste, Traumata und Hoffnungen sind in ihren Köpfen weiterhin präsent.»

Im Aufnahmezentrum im griechischen Moria, das für 2757 Menschen konzipiert wurde, leben rund 15 000 Frauen, Männer und Kinder. Das Geflüchtetenlager ist ein Ort der Gewalt, der Entbehrungen, des Leidens und der Hoffnungslosigkeit. Lesbos, Griechenland – Juli 2020
© Enri Canaj / Magnum PhotosIn den überfüllten Lagern sitzen Zehntausende Geflüchtete und Asylsuchende unter menschenunwürdigen Lebensbedingungen fest. Durch die Pandemie hat sich die Situation noch weiter zugespitzt.
Die katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Lagern begünstigen die Ausbreitung der Covid-19-Epidemie. Angesichts der fehlenden sanitären Anlagen und der begrenzten medizinischen Versorgung ist das Risiko, dass sich das Virus weiter unter den Geflüchteten ausbreitet, nach wie vor hoch. Wie sollen in einem solchen Lager die Präventionsmassnahmen wie Abstandhalten oder regelmässiges Händewaschen eingehalten werden? Fünf- oder sechsköpfige Familien teilen sich Unterkünfte, die nicht grösser als drei Quadratmeter sind. Seit März 2020 wurden die Ausgangsbeschränkungen in Verbindung mit dem Coronavirus und die Beschränkung der Freizügigkeit von Asylsuchenden in Moria verlängert – sieben Mal und insgesamt mehr als 150 Tage.
Enri Canaj war auch am 9. September 2020 vor Ort, als mehrere Brände im Geflüchtetenlager von Moria auf der Insel ausbrachen. Das Feuer zerstörte die komplette Infrastruktur und zwang 12 000 Männer, Frauen und Kinder, zu fliehen.

In rascher Folge brachen mehrere Brände aus, die das gesamte Lager zerstörten und die Bewohner zur Flucht zwangen.
© Enri Canaj / Magnum Photos

«Unsere Teams wurden Zeugen, wie sich das Feuer die ganze Nacht lang im Lager ausbreitete. Alles brannte. Wir sahen, wie die Menschen massenweise flüchteten, ohne zu wissen, wohin. Die Kinder hatten grosse Angst und die Eltern standen unter Schock.»

Lesbos, 12. September 2020. Bei Zusammenstössen in der Nähe der Stadt Mytilini kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei, die Tränengas einsetzt. Die Frau auf dem Bild erlitt Verbrennungen durch das Tränengas.
© Enri Canaj / Magnum Photos«Es ist eine Schande, was diese Menschen täglich auf der Insel aushalten müssen», ärgert sich Enri Canaj. Diese Brände sind nur die Spitze des Eisbergs. In Griechenland sitzen als Folge der im März 2016 in Kraft getretenen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei Zehntausende Geflüchtete und Asylsuchende in Lagern fest. Diese Abkommen wurden von zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, darunter Ärzte ohne Grenzen, kritisiert. Sie haben dazu geführt, dass Tausende Männer, Frauen und Kinder in Lagern festsitzen, wo sie unter unhygienischen, gefährlichen und menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen.
Das Leben auf engstem Raum in diesen Lagern verursacht Spannungen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der Camps. «In Vathy auf der Insel Samos leben mehr als die Hälfte der Menschen in den Lagern in Zelten oder unter Plastikplanen, umgeben von Abfällen und menschlichen Exkrementen», kritisierte Vasilis Stravaridis, Generaldirektor von Ärzte ohne Grenzen Griechenland, bereits 2019.

Magulah und ihr Ehemann Mohammad leben seit Juli 2019 im Lager von Moria. Sie kommen aus Afghanistan und haben sechs Kinder, die jedoch nicht alle bei ihnen sind. «2018 wurden wir bei einem missglückten Versuch, aus der Türkei nach Griechenland zu gelangen, von unseren Kindern getrennt. Einer von ihnen ist inzwischen in einem Geflüchtetenlager in Deutschland und unser 14-jähriger Sohn in einem Spital in Frankreich. Vor zwei Tagen hatten wir das erste Mal nach zwei Jahren wieder Kontakt zu ihm. Er leidet unter Panikattacken und kämpft mit psychischen Problemen.» «Hier leiden alle. Die Tage sind leer. Das einzige, was wir tun, ist anstehen. Man muss anstehen, um Essen zu erhalten, und mehr als eine Stunde in der Schlange stehen, wenn man auf Toilette muss. Wir können hier nicht mehr länger bleiben», so Magula.
© Enri Canaj / Magnum PhotosVerheerende Auswirkungen auf die Gesundheit

«Seit die Quarantäne begonnen hat, fühlen wir uns wie im Gefängnis. Ich muss im Camp um Erlaubnis fragen, um die Medikamente für mein Kind zu holen, und sie lassen mich nicht raus. Ich möchte laut schreien, mir meinen ganzen Schmerz von der Seele schreien. Aber das kann ich nirgendwo tun.» Said Abbasi, Geflüchteter in Lesbos
© Enri Canaj / Magnum PhotosFür die Menschen in den Lagern gibt es viele Hürden beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das psychologische Personal von Ärzte ohne Grenzen leistet ihnen Beistand, vor allem bei Problemen mit Depressionen, Ängsten, Psychosen oder Leiden infolge von Folter. Im Zeitraum zwischen 2019 und 2020 behandelten die Teams der Kliniken für psychische Gesundheit auf den Inseln Chios, Lesbos und Samos insgesamt 1369 Patientinnen und Patienten. Viele von ihnen litten unter starken psychischen Problemen, vor allem posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen. Mehr als 180 Personen, die von Ärzte ohne Grenzen betreut wurden, hatten sich selbst verletzt oder einen Selbstmordversuch unternommen. Zwei Drittel von ihnen waren Kinder, die Kleinste war gerade einmal sechs Jahre alt.

Yasin lebt mit seinem dreijährigen Bruder und seinen Eltern in einer behelfsmässigen Unterkunft im «Olivenhain» auf Lesbos. Das Bild, das er gemalt hat, zeigt kämpfende Menschen.
© Enri Canaj / Magnum PhotosWerde Teil unserer Geschichte, abonniere unseren Newsletter.


Ich habe ein Problem mit meiner Niere. Es ist sehr schmerzhaft. Auch Kopfschmerzen habe ich jeden Tag. Alle meine Versuche, hier im Lager oder im Spital zum Arzt zu gehen, waren erfolglos. Meine Kinder sind alle übersäht von Insektenstichen und fühlen sich oft krank, aber ich kann ihnen nicht helfen», so Golnegar. Ihr Mann fügt hinzu: «Alles, was wir wollen, ist einen sicheren Ort für unsere Kinder. Wir sind hierher gekommen, um sie vor dem Krieg zu retten. Wir wollten, dass sie zur Schule gehen können. Stattdessen sitzen wir nun seit fast einem Jahr hier im Lager fest.
«Wir möchten nur ein friedliches Leben führen. Wir möchten unsere Kinder zur Schule schicken können. Das ist nur auf dem Festland oder in anderen europäischen Ländern möglich. Wie lange müssen wir es noch in diesem behelfsmässigen Camp aushalten?»

Das Team Gesundheitsförderung spielt eine wichtige Rolle bei der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen im Aufnahmezentrum in Vathy auf Samos. Die Aufgabe besteht darin, über Gesundheitsthemen zu informieren, um Krankheiten vorzubeugen und sicherzustellen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Lager Zugang zu den Projekten von Ärzte ohne Grenzen haben.
© Enri Canaj / Magnum PhotosSich aus seinen Fesseln befreien
«Die Menschen hier überwinden enorme Hindernisse. Es zeigt, wie stark und aussergewöhnlich wir Menschen sind», sagt Enri Canaj. Die Männer, Frauen und Kinder unterstützen sich gegenseitig. Trotz unmenschlicher Bedingungen ist inmitten der Migrantengemeinschaft eine grosse Menschlichkeit spürbar.»

Khalil al Khalil ist 67 Jahre alt. Er kommt aus Syrien und leidet unter chronischer Lungenentzündung und einem zu hohen Cholesterinspiegel. Er lebt mit seinem minderjährigen Sohn und seiner acht Monate alten Tochter im Lager von Vathy auf Samos in einer provisorischen Unterkunft. «Hier in Vathy gibt es keinen Zugang zu Ärzten oder Medikamenten. Ich habe Angst vor Covid-19 und versuche, mich in meinem Zelt zu isolieren. Falls das Virus hier ausbricht, dann gnade uns Gott.»
© Enri Canaj / Magnum Photos«Als wir noch in Syrien waren, gingen wir davon aus, dass man uns in Europa mit Respekt und Würde begegnen würde. Wir dachten, hier wären wir sicher. Mein einziger Wunsch ist, ein friedliches Leben mit meinen Kindern zu leben. Aber dafür brauchen wir Europas Hilfe.»
Enri Canaj musste selbst mit elf Jahren aus Albanien flüchten und kann sich gut in die Menschen hineinversetzen, die er fotografiert: «Ich weiss, wie es sich anfühlt, festzusitzen. Wie es ist, mehrere Jahre ohne Papiere zu leben, ständig in Gefahr zu sein. All diese Gefühle sind wieder hochgekommen, als ich diese Menschen fotografiert habe. Die Fotografie hat mir dabei geholfen, meine Erfahrungen zu verarbeiten. In dem Moment, wo ich nicht mehr nur passiv, sondern proaktiv mit meiner Realität umgegangen bin, war ich wieder in der Lage, mich auszudrücken.» Trotz allem versuchen die Geflüchteten, ihr Leben so normal wie möglich zu organisieren.


«Das Meer verkörpert die bittersüssen Erfahrungen der Menschen», kommentiert Enri Canaj. Es hat Tausende Menschen bis nach Europa getragen. Aber viele haben es auch nicht geschafft. Einige Körper gab das Meer wieder her, andere hat es für immer verschluckt. Nun spielen hier nachmittags die Kinder. Aufgrund des Mangels an grundlegenden Strukturen ist das Meer zu einem Ort geworden, an dem die Menschen baden, ihre Kleidung waschen und sogar Mahlzeiten finden.»
Moria – Symbol für eine gescheiterte Migrationspolitik
Mehr denn je stehen Moria und die anderen Lager Symbol für das Scheitern der EU-Migrationspolitik. Tausende von Frauen, Männern und Kindern werden zu unfreiwilligen Akteuren in einer zeitgenössischen griechischen Tragödie.
«Wenn jemand aus einem vom Krieg zerrütteten Land kommt, kann man ihm nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlagen und ihn wegschicken», so Enri Canaj entrüstet. «Doch trotz der unmenschlichen Bedingungen, die hier herrschen, helfen die Gemeinschaften einander gegenseitig. Innerhalb der Migrantengemeinschaften kümmert man sich liebevoll umeinander. Wir alle lernen viel von unseren eigenen Erfahrungen – und von den Menschen, denen wir begegnen, unseren neuen Nachbarn mit ihrer Kultur, ihren Traditionen, ihrem Schmerz und ihrer Kraft. Ich glaube fest daran, dass es dieser Zusammenhalt ist, der den Geflüchteten auf den griechischen Inseln die Kraft gibt, durchzuhalten», so der Fotograf.

Lesbos, 12. September 2020. Die Brände im Moria-Camp haben Tausende Personen obdachlos zurückgelassen. Frauen beim Anstehen, um Wasser zu erhalten.
© Enri Canaj / Magnum PhotosDie jüngsten Foto-Reportagen


Sudan, Menschen auf der Flucht: An der Grenze – Thomas Dworzak, 2020

Honduras und Mexiko: Hoffnung am Ende des Wegs - Yael Martínez, 2021

Ituri: Inmitten von Rissen ein Schimmery - Newsha Tavakolian, 2021

Mossul, wo die Tauben wieder fliegen - Nanna Heitmann 2021
