Generationen von «Geflüchteten» in Dadaab
Das erste Geflüchtetenlager von Dadaab in Kenia wurde vor dreissig Jahren errichtet, um Somalier:innen aufzunehmen, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land geflohen waren. In den darauffolgenden Jahren kamen weitere hinzu. Auf dem Höhepunkt seiner Aufnahmekapazität beherbergte der Geflüchtetenkomplex in Dadaab etwa eine halbe Million Menschen. Viele Geflüchtete leben seit drei Jahrzehnten in diesen Lagern. Einige sind dort geboren und kennen nichts anderes. Ärzte ohne Grenzen leistete 1992 erstmals einen Einsatz in Dadaab. Während der meisten Zeit danach sicherte die Organisation die medizinische Versorgung für viele Geflüchtete. Sie ist heute die wichtigste Anbieterin von Gesundheitsdienstleistungen in Dagahaley, einem der Lager. Bei einem kürzlichen Besuch in Dadaab traf der südafrikanische Fotograf Lindokuhle Sobekwa mehrere Generationen von Familien, die in den Camps geboren und aufgewachsen sind. Diese Erfahrung führte dazu, dass er seine eigene Vorstellung davon, was es bedeutet, ein:e «Geflüchtete:r» zu sein, in Frage stellte.
Die harte Realität im Lager
Es mag seltsam erscheinen, jemanden als «Geflüchteten» zu bezeichnen. Ich habe immer schon Leute über Geflüchtete sprechen hören, aber ich wusste nicht, dass das grösste Lager der Welt in Dadaab in Kenia liegt. Ich wollte mir selbst ein Bild davon machen, wie dieser Ort aussieht und mit welchen Herausforderungen seine Bewohnenden konfrontiert sind. Natürlich kennen diese jene selbst am besten. Nichtsdestotrotz kann ich Ihnen von meiner eigenen Erfahrung an diesem Ort berichten, die sehr intensiv war.
Ich war zwar bereits zuvor für einen anderen Auftrag nach Kenia gereist, hatte jedoch keine Kenntnis von Dadaab und begab mich zum ersten Mal in ein Geflüchtetenlager. Die Spannungen in Somalia waren mir bekannt, weil südafrikanische Zeitungen darüber berichteten und auch, weil Somalier:innen in meinem Land leben und einige davon zu meinen Freunden zählen, aber sie hatten die Lager nie erwähnt. In meiner Heimat passierten viele fremdenfeindliche Übergriffe auf sowie Morde an Somalier:innen, die in Südafrika leben. Aber was immer ihnen auch geschieht, sie entscheiden sich stets dafür, zu bleiben. Auch während meines Aufenthalts in Dadaab erwähnten die meisten der Familien, die ich befragte, dass sie niemals in ihre Heimat zurückkehren würden. Zurückkehren ist keine Option für sie. Auch wenn es sich um einen gefährlichen Ort handelt, würden sie lieber in ein anderes Land gehen oder im Lager bleiben.
Als das Flugzeug landete, betrachtete ich Dadaab aus dem Fenster. Ich erinnere mich, dass ich dabei ein Gefühl hatte, das ich noch nie zuvor empfunden hatte: Ich war nervös und aufgeregt zugleich. Vielleicht waren es die gleichen Gefühle wie bei meiner Ankunft im Camp. Die Nervosität war wohl eine Folge dessen, was ich vor meiner Reise gelesen hatte. Und die Aufregung war auf die Schönheit der Landschaft und ihre Fotogenität zurückzuführen. Die Menschen, denen ich im Lager begegnete, waren sehr freundlich. Wenn ich zum Beispiel auf dem Markt arbeitete und Fotos machte, lächelten alle und ich fühlte mich wohl. Aber neben dieser herzlichen Aufnahme versuchte ich auch, mir vor Augen zu halten, was ich in den Zeitungen gelesen hatte – so etwa Geschichten über Entführungen von Menschen, die auch vorkommen.
Eine Collage über die kollektiven Erfahrungen der Geflüchteten
In Dadaab habe ich viele einzigartige Geschichten gesammelt. Bevor ich Porträts aufnahm, befragten der Kommunikationsverantwortliche Paul von Ärzte ohne Grenzen und ich alle Personen, die ich fotografierte, um zu verstehen, wer sie waren, woher sie kamen und wie lange sie schon im Lager lebten. Einige Mütter, die ihre Neugeborenen zur Impfung ins Krankenhaus brachten, erzählten mir, dass sie selbst im Lager geboren sind und nichts über Somalia wissen. Sie können sich das Land nur mittels Geschichten vorstellen, die ihre Eltern ihnen erzählt haben. Die meisten der Letzteren haben Somalia auf dem Höhepunkt der Spannungen in den frühen 1990er Jahren verlassen. Inzwischen kommt bereits eine zweite Generation von Kindern im Lager zur Welt. Es war interessant und traurig zugleich zu hören, dass all diese Menschen im Lager geboren wurden. Nun sind alle besorgt über die Nachricht, dass das Camp geschlossen werden soll; aber es ist nicht das erste Mal, dass die Behörden dies ankündigen.
Im Laufe der Gespräche, die ich mit den Geflüchteten über das Lager führte, kam mir die Idee, ihre Geschichten mittels Collagen zu erzählen. Da es so viele Erzählungen gab, die oft miteinander verbunden waren, machte es für mich Sinn, einzelne Erfahrungen zu einem Ganzen zusammenzukleben. Zum Beispiel erstellte ich eine Collage über einen Vater, der auf einer Decke liegt. Auf demselben Bild befindet sich ein weiteres Foto von ihm, auf dem er mit seiner Tochter spazieren geht. Auch einige seiner Kleidungsstücke und andere persönliche Gegenstände sind abgebildet. Sein Name ist Khasim und er hat Somalia in den 1990er Jahren verlassen. Er erlebte ein traumatisierendes Ereignis, das ihn bis heute verfolgt. Er musste mitansehen, wie seine erste Frau und seine Kinder das Ziel einer Bombardierung wurden. Er war auf dem Heimweg von der Arbeit und wollte gerade ins Haus gehen, als dieses vor seinen Augen explodierte. Seine ganze Familie kam auf diese Weise ums Leben. Mit seinen Geschwistern gelangte er zu Fuss nach Kenia. Ärzte ohne Grenzen war eine der Organisationen, die ihm damals geholfen haben. Später wurde er zusammen mit anderen Geflüchteten von Ärzte ohne Grenzen rekrutiert. Er war eine der ersten Personen, die für die Organisation arbeiteten, um Kampagnen zur Gesundheitsförderung durchzuführen. Khasim ist jetzt in seinen Fünfzigern. Eines seiner Kinder ist in meinem Alter und studiert derzeit Medizin. Seine Familie versucht einen Weg zu finden, damit dieses sein Studium in Kenia oder allenfalls im Ausland fortsetzen kann. Bildung ist die einzige Hoffnung für somalische Geflüchtete in Kenia, um ihrer desolaten Lage zu entkommen.
Auf einer anderen Collage sind drei Frauen abgebildet, eine im Vorder- und zwei im Hintergrund. Ihre Geschichte ist interessant. Eine der Frauen kam 2007 nach Dadaab. Sie gehörte in Somalia einer ethnischen Minderheit an, während ihr Mann aus der ethnischen Bevölkerungsmehrheit stammte. Aufgrund der Gewalt, der sie durch ihren Mann und seine Familie ausgesetzt war, sowie aus Sicherheitsgründen entschied sie sich zur Flucht aus Somalia. Als sie in Dadaab ankam, ging es ihr psychisch nicht gut und sie schloss sich daher einer Gruppe an, die sich für die Stärkung von Frauen einsetzt. Dieses Programm half ihr dabei, sich Fähigkeiten und Strategien anzueignen, um ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Solche Gruppen unterstützen Frauen darin, unabhängig und emanzipiert zu leben. Sie erzählte mir, dass einige Mitglieder der Gemeinde dagegen waren, Frauen eine Stimme zu geben. In diesem Zusammenhang wurde sie sogar angeschossen, aber niemand kannte die Täterschaft. Sie zeigte mir ihre Wunde. Trotz all dieser Hürden machte sie weiter und suchte nach Wegen, um aus der Situation herauszukommen. Heute ist sie Aktivistin und bemüht sich, Schranken abzubauen, mit denen Frauen in den Lagern konfrontiert sind. Ausserdem setzt sie sich für die Bildung von Mädchen ein. Die Geschichte beeindruckte mich.
Ich habe die Collagetechnik verwendet, um diese Erzählungen zusammenzubringen. Ich versuchte, eine Art kollektive Erfahrung zu widerspiegeln, denn meine Gesprächspartner:innen waren alle auf irgendeine Weise miteinander verbunden. Alles, was sie gemeinsam erlebt haben, bildet eine Reihe miteinander verbundener kollektiver Erfahrungen.
Der Mensch im Mittelpunkt
Die Tatsache, dass ich die Lebensrealitäten der Geflüchteten in Dadaab miterlebt habe, verdeutlichte mir, dass sich etwas ändern muss, um diesen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Beispielsweise sollten gewisse Beschränkungen im Lager aufgehoben werden. Auch ihr Wohnraum oder die Anzahl Personen, die sich dort aufhalten dürfen, sollten nicht eingeschränkt werden.
Ich habe eine Frau interviewt, die im Lager geboren wurde. Sie erwähnte, dass Somalia nicht ihr Land sei, sondern das Land ihrer Mutter. Sie ist eine Geflüchtete und besitzt die kenianische Staatsbürgerschaft zwar nicht, aber sie träumt davon. Denn diese würde für sie Zugehörigkeit bedeuten.
Auch den Begriff Normalität habe ich hinterfragt. Der Geflüchtetenstatus schafft eine soziale Gruppe, die aus Menschen besteht, die als minderwertig angesehen werden. Es ist inhuman, wenn Menschen so leben müssen und in einem Camp eingesperrt sind. Geflüchtete besitzen selbst wenn sie gebildet sind nicht die gleichen Möglichkeiten wie Kenianer:innen. Und sie verdienen auch nicht so viel wie diese. Das Lager in Dadaab existiert seit dreissig Jahren. Es muss eine offizielle kenianische Gemeinde werden. Es besitzt seinen eigenen Markt sowie die meisten anderen Strukturen, über die eine Gemeinde normalerweise verfügt. Es ist kein Camp, in dem die Menschen in Häusern aus Plastikplanen leben. Ihre Häuser sind solide gebaut, haben stabile Wände und ein Dach. Alles, was sie brauchen, ist Unterstützung, um ihre Kraft wiederzuerlangen und die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Menschen, die ich in Dadaab getroffen habe, inspirierten mich darauf zu achten, eine offene Mentalität zu bewahren. Sie bewegten mich dazu, über ihre Einstellung nachzudenken: Egal, was passiert, man muss durchhalten und eines Tages wird sich etwas verändern.
Diese Erfahrung machte mir bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, dort leben zu dürfen, wo ich lebe. Privilegiert zu sein, einen Pass zu besitzen mit dem ich beweisen kann, dass ich eine Identität habe, und mit dem ich nach Hause reisen kann. In Dadaab gibt es viele Menschen, die gerne ein ähnliches Leben wie ich führen würden. Als Fotograf geniesse ich auch das Privileg, die Geschichte eines Menschen für den Rest der Welt festzuhalten und wiederzugeben. Meine Rolle als Fotograf habe ich immer als die eines kritischen Beobachters und Vermittlers sowie als eine Art Bindeglied zwischen den Menschen betrachtet. Ich wollte immer, dass meine Bilder etwas verändern, selbst wenn es nur die Wahrnehmung einer einzelnen Person von einem Ort beeinflusst, um ihr wieder in Erinnerung zu rufen, dass wir eine gemeinsame Menschlichkeit teilen.