Niger: Die Kinder des Regens
Fotos: Zied Ben Romdhane/Magnum Photos
Text: Ahmad Samro, Programmverantwortlicher von Ärzte ohne Grenzen. Er stammt aus einem der Dörfer bei Zinder
In Magaria im südlichen Niger leben viele Menschen immer noch von der Landwirtschaft in dem Dorf, in dem sie geboren wurden. Jedes Jahr, wenn die Regenzeit und die Nahrungsknappheit beginnen, nehmen Malaria und Unterernährung stark zu. Von diesen saisonalen Spitzen sind besonders Kinder unter fünf Jahren und ihre Familien betroffen. Seit 2005 arbeitet Ärzte ohne Grenzen direkt mit Gemeinden und Behörden zusammen, um gemeinsame Anstrengungen zu intensivieren und so die steigenden Bedürfnisse zu decken. Die Sterblichkeit von Kleinkindern zu begrenzen, ist eine gemeinschaftliche Herausforderung an einem Ort, an dem viele ums Überleben kämpfen. Für die Teams von Ärzte ohne Grenzen ist es ein ständiger Kampf, der zu den anderen Schwierigkeiten, mit denen das Land konfrontiert ist, hinzukommt. Eine davon ist der tiefgreifende Klimawandel in der afrikanischen Sahelzone. Zied Ben Romdhane verbrachte zehn Tage in der Region Zinder, um das Leben, die Kultur und die Gewohnheiten der Menschen fotografisch einzufangen, und hielt dabei auch den Klimawandel, Unterernährung, Malaria und sozioökonomische Herausforderungen bildlich fest.
Begegnung mit der Andersartigkeit
«Schon in jungen Jahren habe ich verstanden, dass es andere Werte und Kulturen gibt, die uns nicht bedrohen, sondern lehren, Unterschiede zu entdecken und uns bereichern. Und dass zwischen zwei Menschen manchmal die grosse kulturelle Kluft nicht zu existieren scheint. Dieser Gedanke kam mir, als ich mich an die Tage an der Seite von Zied, dem tunesischen Fotografen, erinnerte. Er war gekommen, um mein Land zu betrachten und zu verstehen.
Ich bin für mein Studium und die verschiedenen Berufe, die ich ausgeübt habe, stets zwischen meiner Heimatregion und dem Rest des Landes hin- und hergependelt. Später, als ich mich den internationalen Teams von Ärzte ohne Grenzen anschloss, bewegte ich mich zwischen Zinder und dem Rest der Welt. Aber ich bin immer wieder zurückgekommen. Wenn man weggeht, wird man innerlich zerrissen, und wenn man zurückkommt, durchlebt man eine schmerzliche Ankunftsphase. Man hat Leid gesehen, menschliche Dramen, und unbewusst gibt man dies immer an seine Angehörigen weiter. Auf jeden Fall habe ich, wo immer ich auch hinging, versucht, nicht in starre Denkmuster zu verfallen und keine Kultur abzulehnen. Überall habe ich jeweils das Bereichernde in jedem der Unterschiede wahrgenommen.
Ich gehöre der Tuareg-Kultur an und stamme aus der Region Zinder. Aber in Wirklichkeit besteht unser Land aus einer multikulturellen Mischung von Hausa, Fulbe, Kanuri ... Diese ethnolinguistische Mischung hat eine neue Kultur hervorgebracht, die von jenem Stolz durchdrungen ist, der uns charakterisiert. Übrigens, hier noch eine kleine Geschichtslektion: Zinder war die erste Hauptstadt des Landes, aber aufgrund von Wassermangel verliessen die Behörden die Stadt. Das zeigt, wie stark manchmal das Schicksal eines Territoriums von wenigen Dingen abhängt …
Ein vielfältiges Land aus dem Blickwinkel des Fotografen
Ich habe mich meiner Tuareg-Kultur immer verbunden gefühlt. Poesie, Märchen und mündliche Überlieferungen nehmen einen wesentlichen Platz in ihr ein. Heute vermitteln jene Erzählungen jedoch die Vorstellung, dass die Zeit in ihren althergebrachten Traditionen wie eingefroren geblieben ist, was nostalgisch macht. Die Realität sieht jedoch so aus: Diese Vergangenheit ist vorbei und das muss man akzeptieren.
Ich habe gesehen, wie sich diese Region verändert hat. Zunächst aus demografischer Sicht: Der Druck auf das Land ist enorm. Mit der Weitergabe von Erbschaften werden Felder in immer kleinere Parzellen aufgeteilt, was eine Änderung der Anbaumethoden erfordert. Land, auf dem normalerweise Viehzucht betrieben wird, wird gleichzeitig auch für landwirtschaftliche Kulturen genutzt. Das destabilisiert das wirtschaftliche Gleichgewicht. Hier kommt es immer wieder zu Lebensmittel- und Ernährungskrisen, die die Menschen in unterschiedlichem Ausmass treffen. Jene von 2005, die mich dazu bewogen hat mich Ärzte ohne Grenzen anzuschliessen, hat sich sicher stärker in die Köpfe der Menschen eingeprägt. Aber solche Krisen wiederholen sich hier regelmässig. Die Händler vergeben zwar Kredite, doch aufgrund von Preisschwankungen müssen Familien bis zum Vierfachen des erhaltenen Betrags zurückzahlen. Die Region Zinder grenzt an jene von Maradi und Agadez, in denen insbesondere die Sicherheitslage sehr angespannt ist, was eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Nicht zuletzt manifestiert sich der Klimawandel hier konkret. Die Regenzeiten setzen unregelmässig ein, und die Bauern wissen nicht mehr, wann sie ihr Saatgut ausbringen sollen. Die Überschwemmungen der letzten Jahre und die Verarmung der Böden tragen dazu bei, das empfindliche Gleichgewicht in dieser Region zu zerstören. Als die Idee aufkam, einen Fotografen zu engagieren, um Niger im Jahr 2021 und insbesondere meine Region Zinder bildlich festzuhalten, schlug ich also vor, ihn zu begleiten.
Unser Vorgehen ist seit Jahren identisch und ich dachte, dass es vielleicht an der Zeit wäre, eine Perspektive von aussen zu erhalten, einen professionellen Blick, um die Mangelernährung aus einem anderen Winkel zu betrachten. Hier wüten Mangelernährung und Malaria in den Familien, und der Zugang zur medizinischen Versorgung ist aufgrund der Entfernung und der Kosten kompliziert. Ärzte ohne Grenzen ist seit Jahren in der gesamten Region tätig, und dank des gemeinsamen Engagements von Pflegekräften, Gemeinden und Behörden konnten Fortschritte erzielt werden. Aber diese chronische Krise kostet immer noch so viele Leben. Durch die Anwesenheit eines Fotografen konnte man vielleicht etwas Tieferes zum Vorschein bringen. Ich wollte vor allem, dass die Ursachen greifbar werden, nicht nur die sichtbaren Folgen im Alltag, und die weiten Landschaften. Ich habe die Weite schon immer geliebt…
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Die Intensität des Lebens im fotografischen Augenblick
Als Zied ankam, gab ich ihm eine kurze Einweisung, damit er verstand, wo er sich aufhielt. Dabei versuchte ich, weder seine Sichtweise zu beeinträchtigen noch seine bevorstehende Wahrnehmung zu beeinflussen. Danach bewegte er sich weitgehend autonom. Er ist ein selbstständiger Mensch, der sich anpassen kann und weiss, wie man von den Menschen hier akzeptiert wird. Dennoch habe ich ihm auch nicht den absoluten Freiraum gewährt. Ich glaube, wir haben gemeinsam einen guten Mittelweg gefunden. Zied begleitete mich durch meinen Alltag und hielt fest, was er wollte. Er ist sehr versessen, aber im positiven Sinn! Und die Leute hatten Spass daran, Zied beim Fotografieren zuzusehen. Noch heute, wenn ich sie treffe, sprechen sie über jenen Moment. Sie sahen in diesem Fotografen auch ein Mittel, um sich Gehör zu verschaffen oder zumindest einige Botschaften zu übermitteln.
Ich fand es wichtig, einen Blick auf den Alltag der Frauen zu werfen. Denn während sich das ganze Land verändert hat, blieben lediglich die Frauen auf dem Land unberührt von diesem Wandel. Die Arbeitslast auf den Schultern der Frauen und Kinder ist nach wie vor enorm, und ich weiss, welche Auswirkungen das auf ihre Gesundheit hat. Wir besuchten mehr als ein Dutzend Dörfer: in der Landwirtschaftszone, in der Weidezone und in der Pufferzone dazwischen. Zufällige Begegnungen entschieden, welche Familien auf den Fotos zu sehen sind. Zied ist ein neutraler Profi, der seine Bilder nach Gefühl schiesst. Das Ergebnis ist das in einem Überraschungsmoment für immer festgehaltene Alltagsleben. Und in diesem eingefrorenen Augenblick erkennt man die Intensität des Lebens. Als ich klein war, war mein Vater mit Anthropolog:innen befreundet, die Bilder aufnahmen. Die Abzüge gelangten viele Monate nach deren Besuch zu uns. Und ich erinnere mich, dass es immer ein besonderes Gefühl war, diese auf Fotopapier festgehaltenen Momente im Nachhinein wiederzusehen. Ich wurde von den Bildern eingelullt, die für uns sowohl Erinnerungen an die Vergangenheit als auch das Teilen eines gegenwärtigen Moments beim Durchblättern des Albums waren. Im Gegensatz zum Video ist das Foto ein Standbild. Es spricht still zu uns, regt uns zum Nachdenken an. Jedes Bild von Zied verweist mich bei der ersten Betrachtung auf meine Umgebung, auf das, was ich kenne. Wenn ich einem Foto jedoch besondere Aufmerksamkeit schenke, werde ich auf etwas Künstlerischeres verwiesen. Wir werden zu Objekten oder Subjekten, und die Gesichter im Vordergrund des Bildes erscheinen grösser als in Wirklichkeit. Die Schönheit dieses Augenblicks offenbart sich mir.
Ich möchte den Menschen, die sich Zieds Bilder ansehen, keine Botschaft überbringen. Das Einzige, was ich mir von ihnen wünsche, ist, dass sie intensiv hinschauen. Ich möchte, dass sie meinen Alltag betrachten, meine Kostbarkeiten, mein Lächeln, meine Umgebung. Vielleicht sehen sie dabei auch mein Leid. Und dass sie es sind, die mir etwas sagen, die etwas mit mir teilen wollen – basierend darauf, was sie in jenen Momenten von mir erblickt haben. Mir ist wichtig, was sie mir sagen werden. Ich möchte ihnen die Freiheit lassen, von ihrem eigenen Standpunkt her den Unterschied in mir zu entdecken und festzustellen, wie bereichernd dieser Unterschied sein kann.»