Sudan, Menschen auf der Flucht: An der Grenze
Im November 2020 ordnete der äthiopische Premierminister nach einem mutmasslichen Angriff auf einen grossen äthiopischen Armeestützpunkt eine Militäraktion gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray an. Über Wochen hatten sich zwischen der Regierung von Addis Abeba und der Region Tigray Spannungen aufgebaut, die in einen militärischen Konflikt mündeten. Tausende Menschen wurden aufgrund der Gewalt innerhalb ihres Landes vertrieben oder suchten jenseits der Grenze im Sudan Zuflucht.
Der Fotograf Thomas Dworzak war einige Zeit nach Eintreffen der ersten Geflüchteten vor Ort. Er erinnert sich: «Vor 40 Jahren ereignete sich in der Region Ähnliches. Bilder von Hungersnöten, Entbehrungen und beispielloser Gewalt gingen um die Welt. Heute wie damals trieben die Schrecken viele Menschen aus Tigray in die Flucht. Damals trug ein geschwächtes kommunistisches Regime die Verantwortung. Heute hat ein mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneter Präsident das Sagen.»
Einigen Flüchtenden gelingt es, einen Teil ihres Besitzes einzupacken oder ihr Vieh mitzunehmen. Andere müssen ihre Häuser Hals über Kopf verlassen; sie begeben sich mit leeren Händen und schweren Herzen in eine ungewisse Zukunft. Einer der Geflüchteten, den Thomas Dworzak traf, heisst Salomon. Er erzählt: «Wir wollten nicht warten, bis der Krieg endgültig ausbricht, sondern machten uns auf in den Sudan. Wir liefen und liefen und harrten vier Tage lang im Busch aus. Auch danach ging es zu Fuss weiter. Ich musste alles zurücklassen, mein Haus und auch meinen Laden. Bis auf mein Handy habe ich nichts bei mir.»
Vielen Familien steht anschliessend eine lange Reise ins Nachbarland Sudan bevor. Mal dauert sie Stunden – mal mehrere Tage. Unterwegs fehlt es oft an Trinkwasser, Essen und sicheren Unterkünften, die Schutz vor dem rauen und trockenen Wetter bieten könnten.
In den ersten Wochen nach der Offensive in Tigray sind Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen Zeuge des grossen Flüchtlingszustroms an der sudanesischen Grenze. «Als ich das Gebiet Mitte November erreichte, strömten zahlreiche Menschen ins Land», so der Notfallkoordinator von Ärzte ohne Grenzen, Hano Yagoub. Er schildert:
Ist die Grenze einmal überquert, lassen sich die meisten Menschen in den Transitlagern in Al-Shabat oder Hamdayet nieder. In Al-Shabat sind die Lebensbedingungen äusserst prekär; es mangelt an Unterkünften, Trinkwasser und sanitären Anlagen. Während einige Familien in den Dörfern bei lokalen Familien Zuflucht finden, die ihren Nachbarn aus Äthiopien generell gut gesinnt sind, sehen andere sich gezwungen, draussen zu übernachten.
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Nach mehreren Tagen Flucht – ohne Essen und Trinken – stärken die Neuankömmlinge sich im Camp an der Wasserstelle. In der prallen Sonne warten die Familien geduldig, bis sie an der Reihe sind.
Um den Menschen im Lager Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen, betreibt Ärzte ohne Grenzen eine Klinik. Dort führen die Teams täglich Hunderte von Konsultationen durch und prüfen den Ernährungszustand der Neuankömmlinge. Viele leiden an Atemwegsinfektionen, Malaria oder Durchfallerkrankungen. Auch psychische Beschwerden sind verbreitet. Viele Geflüchtete berichten von Ängsten und Schlaflosigkeit – Symptome, die auf schwere Gewalterfahrungen schliessen lassen.
Umsiedlung nach Um Rakuba
Kurz nach ihrer Ankunft werden die Neuankömmlinge dazu aufgefordert, sich für eine Umsiedlung in das Lager Um Rakuba im Bundesstaat Gedaref zu registrieren – eines der beiden offiziellen Lager in der Region für Geflüchtete aus Äthiopien. Obwohl Um Rakuba bereits überfüllt ist und es an angemessener Infrastruktur fehlt, werden viele Betroffene durch zunehmende Drohungen (etwa in Bezug auf den Zugang zu Nahrungsmitteln) genötigt, sich für das offizielle Lager zu registrieren. «Egal, mit welchen Argumenten diese Transfers gerechtfertigt werden – der Schutz und das Wohlergehen der Geflüchteten haben oberste Priorität», so Hugues Robert, Leiter der Notfalleinsätze von Ärzte ohne Grenzen.
Nach der Registrierung steigen die Familien in den Bus, der sie nach Um Rakuba bringt. Nach einer mehrstündigen Fahrt erreichen die Vertriebenen das überfüllte Lager, in dem mehr als 20 000 Menschen unter prekären Bedingungenleben.
Nach der Umsiedlung greifen Angst und Müdigkeit um sich. Im Lager gibt es nicht annähernd genügend sanitäre Anlagen für alle Neuankömmlinge. Zur Verbesserung der Hygienebedingungen hat Ärzte ohne Grenzen mehrere Wasserstellen im Lager errichtet. So wird auch der Verbreitung von Krankheiten vorgebeugt.
Das Welternährungsprogramm verteilt Lebensmittel an Geflüchtete in Form von gekochten Mahlzeiten oder Rationen, die die Menschen selbst zubereiten können. Auch lebensnotwendige Güter werden verteilt, aber sie reichen nicht für alle. Trinkwasser wird mit Lastwagen ins Lager transportiert und dort in grossen Zisternen gelagert. Familien füllen ihre Kanister direkt an den Wasserstellen. Um den Zugang zu Trinkwasser im Lager sicherzustellen, leisten die Teams von Ärzte ohne Grenzen logistische Unterstützung: Sie bereiten das in den Tanks gespeicherte Wasser auf, graben Brunnen und errichten Pumpstationen.
Unsere Einsatzteams haben Kliniken errichtet, in denen sie Geflüchtete medizinisch behandeln. Die Einrichtung verfügt über eine Notaufnahme, eine Intensivstation, eine Entbindungsstation und stationäre Betten. Die medizinischen Mitarbeitenden kümmern sich auch um die Überweisung schwerer Fälle ins Spital in Gedaref.
In überfüllten Lagern wie Um Rakuba können Epidemien schnell aufflammen. Unsere Teams führen Covid-19-Präventionsmassnahmen durch und bereiten sich auf mögliche Cholera-Ausbrüche vor. Die Krankheit ist in der Region endemisch und stellt insbesondere während der mit Überschwemmungen einhergehenden Regenzeit ein grosses Risiko dar. Um der Verbreitung von Infektionskrankheiten vorzubeugen, gibt es im Spital eine Isolierstation. Ausserdem leiden unter den Geflüchteten viele Menschen an chronischen Krankheiten wie HIV, Diabetes oder Bluthochdruck. Daher stellt Ärzte ohne Grenzen sicher, dass chronisch Kranke medikamentös behandelt werden, und arbeitet mit nationalen Akteuren zusammen, um eine kontinuierliche, langfristige Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.
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Ein Stück Normalität
Der aktuelle Flüchtlingszustrom ist nichts Neues: Bereits im Zuge der humanitären Krise von 1985 gab es immer wieder Flüchtlingswellen aus Äthiopien. 30 Jahre später sind die Flüchtlingslager zu festen Wohnorten geworden. Die äthiopische Bevölkerung ist inzwischen integriert. Nach der Flucht organisieren die Menschen in den Lagern ihren Alltag.
In der Region Gedaref wird die Situation wohl länger anhalten. Die Kämpfe in Tigray scheinen nicht enden zu wollen und es kann noch einige Zeit dauern, bis Geflüchtete nach Hause zurückkehren können. Trotz allem schallt Musik durch die Gassen von Um Rakuba; man hört Menschen lachen.
Salomon erzählt dem Fotografen Thomas Dworzak bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee von seinem Alltag: «So etwas habe ich noch nie erlebt. Dafür ist meine Generation zu jung. Noch immer fällt es uns schwer, nachzuvollziehen, was uns widerfährt. Vor allem wissen wir nicht, ob wir jemals zurück nach Äthiopien können – nach Hause. Das ist das Allerschlimmste.»