Mossul, wo die Tauben wieder fliegen
Im Oktober 2016 lancierte die irakische Armee eine Offensive, um Mossul zurückzuerobern. Der Islamische Staat kontrollierte die zweitgrösste Stadt des Landes damals seit drei Jahren. Der Grossteil der Bevölkerung hatte die Stadt verlassen und war vor der Besatzung, den Gesetzen des Terrors und der Verfolgung geflohen. Diese Offensive dauerte neun Monate. Jede Strasse, jedes Haus wurde inspiziert und eingenommen, und im Laufe der Zeit verschob sich die Frontlinie. Mit Tausenden von verletzten oder getöteten Irakerinnen und Irakern sowie über einer Million Vertriebenen handelt es sich bei dieser urbanen Schlacht um eine der tödlichsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen standen die Teams von Ärzte ohne Grenzen in einem Gesundheitsposten in der Nähe der Frontlinien im Einsatz. Seither hat sich das Leben wieder normalisiert, doch das Gesundheitssystem erholt sich nur langsam. Ärzte ohne Grenzen unterstützt noch immer mehrere Einrichtungen, darunter die Entbindungsstation und die Kinderabteilung des Spitals Nablus am Stadtrand. Die monatliche Geburtenzahl erreicht Rekordwerte. Sichere Entbindungen gehören zu den Prioritäten der Teams, weil das Risiko der Müttersterblichkeit bei Geburten weiterhin sehr hoch ist.
Vier Jahre nach der Vertreibung des Islamischen Staates (IS) aus Mossul durch die irakischen Streitkräfte und eine internationale Koalition erhielt ich den Auftrag, die Wiedergeburt von Mossul fotografisch festzuhalten – einerseits im Sinne des Wiederaufbaus, andererseits aber auch sprichwörtlich in der grössten Entbindungsstation von Ärzte ohne Grenzen, wo jeden Monat durchschnittlich 850 Kinder geboren werden.
Im Juni 2014 übernahmen rund 1500 Kämpfende des IS im Irak und in Syrien die Kontrolle über Mossul, die zweitgrösste Stadt des Landes. Drei Jahre lang lebten deren Einwohnende in Angst vor einer Bestrafung wegen der extremistischen Auslegung des islamischen Rechts, die von der Terrororganisation durchgesetzt wurde. Frauen mussten sich von Kopf bis Fuss in Schwarz verhüllen, Minderheiten wurden verfolgt und öffentliche Hinrichtungen, Verhaftungen sowie Folter gehörten zum täglichen Leben. Die meisten Frauen, die ich traf, verbrachten all diese Jahre in ihren Häusern eingesperrt und hatten keine Möglichkeit zu studieren oder auch nur ohne Begleitung eines männlichen Familienmitglieds das Haus zu verlassen. Einige mussten allerdings täglich zur Arbeit erscheinen. So etwa Kazal, eine Hebamme im Spital von Ärzte ohne Grenzen in Nablus, die bei der Entbindung von Kindern mithalf. Ihr Sohn fuhr sie jeden Tag zur Arbeit in einem öffentlichen Spital. Später, als die Geschosse in immer geringerer Entfernung einschlugen, begaben sich die Frauen zu ihr nach Hause, um zu gebären. Kazal erzählt mir, dass die meisten Menschen den IS anfangs gut akzeptierten – jener baute Strassen und behandelte die Bürgerinnen und Bürger freundlich. Erst im Laufe der Zeit zwangen sie Männer, sich einen Bart wachsen zu lassen und Frauen, sich komplett in Schwarz zu verhüllen. Bis es schliesslich so weit kam, dass Mädchen hingerichtet wurden, weil sie braune statt schwarze Socken trugen.
Im Dezember 2016 begann die Schlacht um Mossul. Erst im Juni 2017 wurde der westliche Teil der Stadt befreit. Vor allem die Altstadt von Mossul gestaltete sich aufgrund ihrer engen Gassen, durch die kein Panzer fahren konnte, als komplexes Kampfgelände. An meinem ersten Tag in Mossul im September 2021 begleitete mich mein «Guide» Sangar Khaleel durch die Überreste der einst prächtigen historischen Stadt. Während wir über die Trümmer kletterten und stolperten, stiessen wir immer wieder auf menschliche Knochen und Überbleibsel von Sprengstoffgürteln. Ich bemerkte, dass meine Knie unaufhaltsam zitterten und mein Herz schneller schlug. Ich war gerade dabei, in ein zerstörtes Haus einzutreten, während Sangar telefonierte. Plötzlich hörte ich, wie er mir nacheilte. Am Eingang des Hauses warnte ein arabisches Schild vor Minen, die vielleicht noch nicht entfernt worden waren.
Das Ausmass der Zerstörung, das ich sah, und die Erzählungen der Einheimischen über den Krieg liessen mich lediglich erahnen, welche Gräuel sie erlebt haben mussten. Mein Versuch, ihre Geschichten in Worte zu fassen, misslang. Als Ausländerin, die zuvor noch nie im Nahen Osten gearbeitet hatte, werde ich sie niemals vollständig verstehen oder mir vorstellen können.
Im Spital Nablus von Ärzte ohne Grenzen im westlichen Vorort von Mossul erwartete ich, eine positive Geschichte der «Wiedergeburt» fotografieren zu können: Mossul, das nach so viel Trauer und Verlust wieder zum Leben erwacht. Doch an diesem ersten Tag traf ich auf viele Frauen, die Fehlgeburten erlitten hatten, und auf solche, die sich zu schwach und erschöpft fühlten, um zu sprechen. Ich lernte die libanesische Psychologin Lana kennen. Sie war von der Widerstandsfähigkeit der Frauen beeindruckt, erklärte mir jedoch, dass postnatale Depressionen, impulsives Verhalten und Selbstverletzungen sehr häufig auftreten. «Meine einzige Hoffnung liegt in der nächsten Generation. Der IS hat die Menschen hier regelrecht traumatisiert, seinetwegen ist die gesamte Gesellschaft aggressiver geworden. Die Männer haben sich an Übergriffe und Gewalt gewöhnt. Der IS förderte dieses Verhalten, diese häusliche Gewalt, und das hat die Denkweise der Menschen verändert». Sie verwendete häufig den Begriff «emotionale Blindheit». Nachdem sie drei Jahre lang Angriffen ausgesetzt waren, befanden sich diese Menschen Lana zufolge in einem derart schlechten Zustand, dass sie nichts mehr empfinden konnten. Sie waren emotional erblindet. Dieser Anpassungsmechanismus half ihnen, die Grausamkeiten des Krieges zu überleben. Aber selbst als die Bedrohung nicht mehr da war, blieb der Anpassungsmechanismus in ihnen verankert. Die ganze Zeit über schenkten sie Gefühlen keine Beachtung mehr. Wenn Lanas Hoffnung auf zukünftigen Generationen ruht, dann deshalb, weil die heutige zu schwer traumatisiert ist, um sich psychisch davon zu erholen. Persönlichkeitsstörungen kommen sehr häufig vor.
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Während meines Aufenthalts war der irakische Wahlkampf in vollem Gang. Nachdem wir über eine Stunde im gut besuchten Büro ihrer Partei gewartet hatten, trafen wir uns mit Basma Baseem. Sie war die erste irakische Frau, die Konsulin der Stadt Mossul geworden war, nur drei Monate bevor der IS die Stadt einnahm und sein Kalifat errichtete. Aber bereits zuvor hatte sie Mordversuche durch Bomben überlebt, die an ihrem Auto befestigt wurden, und Dutzende Drohungen erhalten. Der IS entwendete all ihr Hab und Gut, als sie nach Kurdistan floh. Bei unserem Besuch erwähnte sie jedoch, dass sie sich jetzt sicher genug fühle, um sich allein in Mossul zu bewegen.
Im Garten ihres Büros besuchten junge und alte Männer Basma, um mit ihr zu sprechen und sie um Hilfe zu bitten. Viele von ihnen trugen traditionelle Kleidung. Sie sassen im Kreis, stellten Fragen und diskutierten über das Problem der hohen Arbeitslosigkeit in ihren Vierteln sowie die fehlenden Perspektiven. Basmas grösste Sorge galt den Familien und Kindern der zurückgebliebenen IS-Kämpfenden, die ihrer Meinung nach eine tickende Zeitbombe darstellen.
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In Karakosch, einer nahe gelegenen assyrisch-christlichen Stadt, sind die Schrecken des Krieges und der Verfolgung schon fast vergessen. Nur die vielen leeren Gebäude, die zwischen den renovierten Häusern stehen, erinnern daran, dass viele Familien es nicht gewagt haben, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie haben sich in anderen Ländern niedergelassen. Am Abend des Festes des glorreichen Kreuzes [religiöser katholischer Feiertag] versammelten sich über 4000 Menschen: Frauen, Männer und Mädchen tanzten ausgelassen miteinander zu den Liedern eines berühmten irakischen Sängers. Sangar, mit einem Bier in der Hand, klatschte fröhlich im Rhythmus der Lieder mit und sagte, er habe noch nie irgendwo im Irak so viele Menschen unterschiedlichster Herkunft gesehen, die zusammen feierten. Später gab der irakische Sänger ein Lied über die Ehe zum Besten: «In der ersten Woche bist du wie Zucker für den anderen ... in der dritten packst du deine Koffer und gehst.» Das Lied schien allen vertraut, und die Leute klatschten und lachten zusammen.
Das Leben in Mossul ist auch heute noch hart und Traumata haben tiefe Spuren hinterlassen. Dennoch teilen Bewohnende Mossuls wie die Mutter Assia, die in der Entbindungsstation von Nablus ihr Kind Rahma zur Welt gebracht hat, ihre Hoffnungen: «Ich hoffe, dass sich die Dinge in Mossul und im Irak verbessern werden. Mit der Hilfe und den Anstrengungen aller Einwohnenden werden wir die Stadt wieder aufbauen. Mossul wird wieder auferstehen!». Wie alle Patientinnen und Patienten, die zusehends ihre Funktionen und Fähigkeiten wiedererlangen, lernen auch die Menschen in Mossul das Laufen wieder. Schmerzensschreie werden allmählich durch Kindergeschrei bei der Geburt abgelöst. Veränderungen, die zaghaft auf eine Verheilung und Vernarbung der Wunden Mossuls hindeuten – irgendwann.